LG Frankfurt a.M., Beschluss vom 1. März 2012, 2-24 S 185/11

LG Frankfurt a.M., Beschluss vom 1. März 2012, 2-24 S 185/11

Auslegung des Begriffs “vertretbare Gründe” bei verweigerter Fluggastbeförderung

Gericht

LG Frankfurt a.M.


Art der Entscheidung

Beschluss


Datum

01. 03. 2012


Aktenzeichen

2-24 S 185/11


Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. Der Kläger begehrt von der Beklagten im Rahmen des hiesigen Berufungsverfahrens noch die Leistung einer Ausgleichszahlung in Höhe von 600 EUR wegen einer Nichtbeförderung gemäß Art. 2 lit. j, 4 Abs. 3 und 7 der Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004, nachfolgend: VO).

Der Kläger buchte verschiedene Flüge bei der Beklagten und bezahlte diese vor Reiseantritt. Bei der Beklagten gebucht waren die Strecke Frankfurt a.M. – Sao Paulo mit der Flugnummer JJ 8071 am 3.3.2010 sowie ein sich mit einem anderen Fluggerät anschließender Weiterflug von Sao Paulo nach Santiago de Chile mit der Flugnummer JJ 8214 am 4.3.2010. Die Flugstrecke von Frankfurt a.M. nach Sao Paulo beträgt mehr als 2.500 Kilometer. Der Flug von Frankfurt a. M. nach Sao Paulo sollte durch die Beklagte als ausführendes Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden. Der Weiterflug von Sao Paulo nach Santiago de Chile unter der Flugnummer JJ 8214 sollte dagegen von der Luftfahrtgesellschaft L. Airlines als ausführendes Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden.

Der Rückflug war gebucht am 17.3.2010 von Santiago de Chile nach Sao Paulo (Flugnummer JJ 8213 – L. Airlines) sowie von Sao Paulo nach Frankfurt a. M. (Flugnummer JJ 8070 – Beklagte).

Am 27.2.2010 trat in Chile ein Erdbeben mit der Stärke 8,8 auf, bei dem auch der letzte Zielflughafen in Santiago de Chile beschädigt wurde.

Am 3.3.2010 traf der Kläger rechtzeitig am Flughafen Frankfurt a.M. ein und checkte unter Vorlage einer bestätigten Buchung ein. Die Beförderung wurde ihm jedoch verweigert, obwohl der Flug von Frankfurt am Main nach Sao Paulo planmäßig stattfand. Sämtliche anderen auf den Flug Frankfurt am Main – Sao Paulo gebuchten Passagiere wurden befördert. Der Kläger wehrte sich vehement gegen die Nichtbeförderung. Die Beklagte verweigerte dem Kläger aber dennoch die Beförderung, obwohl ausreichend Platz (113 Sitzplätze standen noch zur Verfügung) vorhanden war.

Der Flug von Sao Paulo nach Santiago de Chile wurde annulliert.

Weil der Kläger dringend die Reise antreten wollte, bat er die Beklagte, ihm eine Ersatzbeförderung, etwa am nächsten Tag, zu gewähren. Nach einigem Hin und Her buchte die Beklagte den Flug von Frankfurt a. M. nach Sao Paulo auf einen Lufthansa-Flug am nächsten Tag um. Den Weiterflug von Sao Paulo nach Santiago de Chile vermochte die Beklagte jedoch nicht zu organisieren, der Kläger buchte diesen Flug selbst. Der Flug einer Mitreisenden des Klägers wurde ebenfalls umgebucht. Jedoch war es der Beklagten hier möglich, auch den Weiterflug von Sao Paulo nach Santiago de Chile ohne zusätzliche Kosten für die Mitreisende umzubuchen. Der Kläger kam aufgrund der Nichtbeförderung 24 Stunden später als ursprünglich geplant in Santiago de Chile an. Eine Ersatzbeförderung im Sinne eines Fluges zu einem in der Nähe von Santiago de Chile gelegenen Flughafen wurde dem Kläger nicht angeboten. …

Mit Schlussurteil vom 4.5.2011 hat das AG Frankfurt a.M. dem Kläger im Hinblick auf den von der Beklagten bereits anerkannten Betrag Zinsen zugesprochen. Weiterhin hat es vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 93,12 Euro zugesprochen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen, also insbesondere auch im Hinblick auf den geltend gemachten Anspruch auf eine Ausgleichszahlung von 600 EUR.

Das AG hat zur Begründung ausgeführt, wenn man davon ausgehe, dass die wegen der Annullierung des zweiten Flugabschnittes erfolgte Nichtmitnahme des Klägers auf dem ersten Flugabschnitt nach Art. 5 VO zu beurteilen sei, so scheitere der Ausgleichsanspruch des Klägers daran, dass die Annullierung des zweiten Flugabschnitts auf außergewöhnliche Umstände, nämlich das Erdbeben in Chile und die dadurch erfolgte Beschädigung des Zielflughafens Santiago de Chile nebst dessen teil- bzw. zeitweiser Sperrung zurückgehe mit der Folge, dass die Beklagte nicht verpflichtet sei, Ausgleichszahlungen gemäß Art. 7 VO zu leisten (Absatz 3 des Artikels 5 der VO). Dass es sich bei dem Erdbeben in Chile um einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der vorgenannten Vorschrift handele, liege auf der Hand und bedürfe daher keiner weiteren Darlegung. Im Hinblick auf die Zustände auf den Flughäfen Santiago de Chile und Sao Paulo ist das AG ohne Beweisaufnahme dem Beklagtenvortrag gefolgt. Weiterhin sei die Beklagte aufgrund der Zustände auf dem Flughafen Sao Paulo auch nicht verpflichtet gewesen, den Kläger lediglich bis nach Sao Paulo zu befördern.

Weiterhin hat das AG auch eine Nichtbeförderung gemäß Art. 4 VO verneint. Diesbezüglich ist das AG der Auffassung, dass vorliegend aufgrund der Gesamtumstände vertretbare Gründe für die Nichtbeförderung vorgelegen hätten. …

Mit Beschluss vom 1.11.2011 hat das AG Frankfurt a.M. sowohl das Teil-Anerkenntnisurteil vom 9.3.2011 sowie das Schlussurteil vom 4.5.2011 gemäß § 319 ZPO wegen offensichtlicher Unrichtigkeiten berichtigt. Insbesondere wurde das Teil-Anerkenntnisurteil vorn 9.3.2011 dahingehend berichtigt, dass der Betrag der Verurteilung sich auf 636,36 EUR beläuft. Entsprechend ist die Zinsforderung im Schlussurteil berichtigt worden. …

II. Die Berufung ist nach Auffassung der Kammer zulässig, da vorliegend nach den Gesamtumständen die Kammer über die Zulassung der Berufung zu entscheiden hat (vgl. Urteile des BGH v. 14.11.2007 – VIII ZR 340/06, zit. nach juris Ziffer 12 und v. 10.2.2011 – III ZR 338/09, zit. nach juris Ziffer 15) und vorliegend die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen ist.

Die Entscheidung über die Berufung hängt davon ab, ob dem Kläger gegen die Beklagte ein Anspruch auf Ausgleichszahlung nach Art. 7 VO zusteht.

Das AG Frankfurt a.M. hat das Vorliegen eines Ausgleichszahlungsanspruchs des Klägers verneint.

Dies hält einer Überprüfung unter anderem nur dann Stand, wenn Art. 2 lit. j VO dahingehend auszulegen ist, dass “vertretbare Gründe” auch solche Gründe umfassen, die nicht in der Person des Fluggastes liegen, wie z. B. Fälle der höheren Gewalt.

1. Soweit sich das AG mit der Frage eines Ausgleichszahlungsanspruchs nach Art. 5 VO wegen der Annullierung des Fluges Sao Paulo nach Santiago de Chile und dem Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO auseinandergesetzt hat, ist dies nach Auffassung der Kammer nicht entscheidungserheblich.

Nach Auffassung der Kammer wirkt sich die Annullierung des Fluges Sao Paulo nach Santiago de Chile rechtlich nicht auf den vorangehenden Flug von Frankfurt a. M. nach Sao Paulo aus. Bei den beiden mit unterschiedlichen Flugnummern genannten Flügen, die auch mit unterschiedlichen Fluggeräten durchgeführt werden sollten, handelt es sich nicht um einen einheitlichen Flug, sondern vielmehr um zwei separate eigenständige Flüge. Dies ergibt sich vorliegend schon daraus, dass hinsichtlich des Fluges von Frankfurt am Main nach Sao Paulo die Beklagte ausführendes Luftfahrtunternehmen und für den Flug Sao Paulo nach Santiago de Chile die Fluggesellschaft L. Airlines ausführendes Luftfahrtunternehmen war.

Danach ist die Annullierung des Fluges Sao Paulo nach Santiago de Chile vorliegend für den Flug von Frankfurt a. M. nach Sao Paulo unerheblich.

Auf die Frage eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO kommt es danach zwangsläufig auch nicht an.

2. Nach Auffassung der Kammer ist vorliegend allein entscheidungserheblich, ob die Voraussetzungen eines Anspruchs auf eine Ausgleichszahlung wegen Nichtbeförderung gemäß Art. 2 lit. j, 4 Abs. 3 und 7 der VO anzunehmen sind.

Es ist zunächst unzweifelhaft, dass dem Kläger die Beförderung gem. Art. 4 Abs. 3 VO gegen seinen Willen verweigert worden ist.

Ein Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung setzt weiterhin das Vorliegen einer Nichtbeförderung im Sinne von Art. 2 lit. j VO voraus.

Die “Nichtbeförderung” ist in Art. 2 lit. j VO legaldefiniert. Danach ist eine “Nichtbeförderung” die Weigerung, Fluggäste zu befördern, obwohl sie sich unter den in Artikel 3 Abs. 2 genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden haben, sofern keine vertretbaren Gründe für die Nichtbeförderung gegeben sind, z. B. im Zusammenhang mit der Gesundheit oder der allgemeinen oder betrieblichen Sicherheit oder unzureichenden Reiseunterlagen.

Vorliegend ist weiterhin unzweifelhaft, dass sich der Kläger rechtzeitig am Flugsteig eingefunden und über eine bestätigte Buchung verfügt hat.

Streitentscheidend ist vorliegend die Frage, ob die Beklagte dem Kläger aus vertretbaren Gründen im Sinne von Art. 2 lit. j VO die Beförderung von Frankfurt a. M. nach Sao Paulo verweigern durfte.

Diese Entscheidung ist wiederum davon abhängig, wie der Begriff der “vertretbaren Gründe” in Art. 2 lit. j VO auszulegen ist.

Insoweit stellt sich die Auslegungsfrage, ob die “vertretbaren Gründe” in der Person des Fluggastes begründet sein müssen oder ob auch Gründe außerhalb der Person des Fluggastes als “vertretbare Gründe” herangezogen werden können.

Nach einer in der deutschen Rechtsliteratur vertreten Auffassung können “vertretbare Gründe” nur in der Person des Fluggastes liegende Gründe sein, die den Luftverkehr oder andere Passagiere in ihrer Sicherheit gefährden oder sonstige, öffentliche oder vertragliche Belange berühren (vgl. Führich, Reiserecht [6. Aufl. 2010], S. 880 Rn. 1023 m.w.N.; Staudinger / Schmidt-Benduhn, NJW 2004, 1897, 1898). Auch wenn ein Fall der höheren Gewalt vorliege, läge nicht der Tatbestand einer Nichtbeförderung im Sinne von Art. 2 lit. j der VO vor (vgl. Führich, Reiserecht [6. Aufl. 2010], S. 880 Rn. 1023 m.w.N.; Staudinger/Schmidt-Benduhn, NJW 2004, 1897, 1898).

Für diese Auslegung könnten die genannten Beispiele der “vertretbaren Gründen” sprechen, die eher einen inneren Bezug zur Person des Fluggastes nahelegen.

Sollte der Rechtsbegriff der” vertretbaren Gründe” gemäß § 2 lit. j VO in diesem Sinne auszulegen sein, wäre nach Auffassung der Kammer der Anspruch des Klägers auf eine Ausgleichszahlung nach Art. 2 lit. j, 4 Abs. 3, 7 VO begründet.

Nach Auffassung der Kammer liegen selbst unter Zugrundelegung des Beklagtenvortrags keine vertretbaren Gründe in der Person des Klägers selbst vor, die eine Beförderungsverweigerung rechtfertigen würden.

Das AG hat diesbezüglich wie folgt ausgeführt:

“Das erkennende Gericht ist der Auffassung, dass – abgestellt auf den Zeitpunkt des Eincheckens des Klägers in Frankfurt a.M. und die zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannte zeitnahe Wiedereröffnung des Flughafens in Santiago de Chile – hier wegen des zu erwartenden ‚Campierens‘ auf dem Flughafen in Sao Paulo sowohl die Gesundheit als auch die allgemeine Sicherheit des Fluggastes betreffende vertretbare Gründe für dessen Nichtmitnahme nach Sao Paulo gegeben gewesen sind mit der Folge, dass mangels Vorliegens einer definitionsgemäßen Nichtbeförderung im Sinne des Art. 4 der geltend gemachte Anspruch auf Ausgleichszahlung entfällt.”

Dem ist nach Auffassung der Kammer nicht zu folgen. Geht man nämlich von Gründen in der Person des Fluggastes aus, dann müssen sich die Gesundheits- bzw. Sicherheitsbedenken in der Person des Fluggastes auch auf den konkreten Flug an sich auswirken. Dies ist vorliegend aber gerade nicht gegeben. Der Kläger hätte den Flug von Frankfurt a. M. nach Sao Paulo unzweifelhaft ohne Gesundheits- bzw. Sicherheitsbedenken durchführen können. Gefahren während des Fluges bestanden offensichtlich nicht. Wenn überhaupt konnten diese erst nach der Landung in Sao Paulo aufgrund der von der Beklagten behaupteten Situation auf dem Flughafen Sao Paulo auftreten. Dies reicht bei einer engen Auslegung der vertretbaren Gründe in der Person des Fluggastes aber gerade nicht mehr. Solche Gefahren nach der Beendigung des Fluges stehen nämlich gerade nicht mehr im Bezug zur ordnungsgemäßen Durchführung des Fluges.

Nach all dem wären bei einer engen Auslegung des Begriffs der “vertretbaren Gründe” im Sinne von Gründen in der Person des Fluggastes, diese in der Person des Klägers im vorliegenden Fall nicht anzunehmen. Danach stünde dem Kläger ein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung wegen einer Nichtbeförderung in Höhe von 600 EUR zu. Die Sache wäre insoweit entscheidungsreif.

Sollte dagegen der Begriff der “vertretbaren Gründe” weit auszulegen sein, insbesondere ohne inneren Bezug zum Fluggast selbst, und z. B. auch Fälle der höheren Gewalt umfassen, dann wäre in dem vorliegenden Verfahren der Sachverhalt in Form einer Beweisaufnahme weiter aufzuklären.

Der Wortlaut des Art. 2 lit. j VO steht einer weiten Auslegung letztlich nicht zwingend entgegen. Selbst wenn sich die genannten Beispiele vorrangig auf Umstände in der Person des Fluggasts beziehen, heißt dies nicht zwangsläufig, dass es nicht auch noch andere “vertretbare Gründe” geben kann. Diesbezüglich wäre auch der Sinn und Zweck der Ausgleichszahlung bei einer Nichtbeförderung zu berücksichtigen. Insoweit sollte vorrangig der Problematik der Überbuchungen entgegengewirkt werden. Insoweit könnte es unbillig sein, einem Luftfahrtunternehmen die Exkulpation in Form der höheren Gewalt abzuschneiden, wenn sich die höhere Gewalt nicht unmittelbar auf den gebuchten Flug auswirkt, sondern nur mittelbar.

Sollte vorliegend der Vortrag der Beklagten zu den Zuständen auf den Flughäfen Santiago de Chile und Sao Paulo infolge des Erdbebens in Chile zutreffend sein, was letztlich noch im Rahmen einer Beweisaufnahme zu klären wäre, wäre nach Auffassung der Kammer von dem Vorliegen einer höheren Gewalt auszugehen mit der Folge, dass bei einer weiten Auslegung des Begriffs “vertretbare Gründe” ein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Ausgleichsleistung ausscheiden würde.

Vor der Durchführung einer Beweisaufnahme ist jedoch zunächst die Rechtsfrage zu klären, ob es auf eine Beweisaufnahme überhaupt ankommt, was vorliegend zu verneinen wäre, wenn der Begriff der “vertretbaren Gründe” eng auszulegen ist.

Danach bleibt festzuhalten, dass der weitere Verfahrensgang von der Frage der Auslegung des Begriffs “vertretbare Gründe” in Art. 2 lit. j VO abhängt.

Rechtsgebiete

Reiserecht