OVG Koblenz, Berufungsurteil vom 24. Juli 1997, 8 A 12820/96

OVG Koblenz, Berufungsurteil vom 24. Juli 1997, 8 A 12820/96

Baurechtliche Zulässigkeit einer Fassadenbemalung

Gericht

OVG Koblenz


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

24. 07. 1997


Aktenzeichen

8 A 12820/96


Leitsatz des Gerichts

Großflächige Graffiti auf Hauswänden können unter Umständen im Sinne der Kunstfreiheit anerkannt werden und stehen in diesem Falle keinen baurechtlichen Vorschriften entgegen.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der Kl. ist Eigentümer eines Grundstücks, das mit einem zweigeschossigen, aus einem Wohnteil und einem früher landwirtschaftlich genutzten Teil bestehenden, mit der Traufe zur Straße weisenden Gebäude bebaut ist. Er hat sowohl die zur Straße ausgerichtete traufseitige Außenwand als auch die Giebelwände fast vollständig bemalt, wobei es sich größtenteils um im Sprühverfahren aufgebrachte Graffiti-Motive (Texte, Symbole, Comicfiguren, Porträts usw.) handelt. Das Haus steht an der Landesstraße 48, es handelt sich um das zweite Gebäude der Ortslage, auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich drei aneinandergebaute Wohnhäuser und in offener Bauweise errichtete Gebäude. Die Umgebungsbebauung verfügt über unterschiedlich gestaltete, helle Fassaden, teilweise sind die Fenster- und Türöffnungen mit Sandsteinen eingefaßt. Die Landesstraße beschreibt in diesem Bereich in Richtung Ortsmitte eine Rechtskurve, das Haus des Kl. steht etwa im Scheitelpunkt dieser Kurve. Vor den Giebelwänden steht – in Richtung Ortsausgang – ein Laubbaum, in Richtung Ortsmitte ein Nadelbaum und sonstiges Gebüsch. Die Bauaufsichtsbehörde gab dem Kl. mit Verfügung vom 22. 2. 1995 auf, den Außenanstrich an seinem Anwesen zu beseitigen und den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen. In der Begründung ist ausgeführt, die Fassadengestaltung verstoße gegen § 5 RhPfBauO und beeinträchtige auch den Verkehr.

Der Kl. hat nach erfolglosem Vorverfahren Anfechtungsklage erhoben, die das VG nach Durchführung einer Ortsbesichtigung abgewiesen hat. Die Berufung des Kl. hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

… Das VG hätte der Klage stattgeben müssen, da die angefochtene Verfügung den Kl. in seinem Grundrecht aus Art. 5 III 1 GG verletzt.

Der Bekl. ist zu Recht davon ausgegangen, daß es sich bei der Fassadenbemalung um Kunst i. S. von Art. 5 III 1 GG handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist das Wesentliche der künstlerischen Betätigung die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden (BVerfGE 30, 173 [189] = NJW 1971, 1645 – Mephisto; BVerfGE 83, 130 [138] = NJW 1991, 1471; BVerfGE 81, 278 [291] = NJW 1990, 1982 – jeweils m. w. Nachw.). Die durch Spraytechnik hergestellte Graffiti-Malerei ist eine – moderne – Form bildender Kunst. Sie erfüllt auch im vorliegenden Fall die Voraussetzungen des „materialen“ Kunstbegriffs (NVerfGE) 67, 213 [226]. Sie ist Ausdruck der individuelen Persönlichkeit des Kl. und seiner Auffassung, daß Kunst ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, und zwar auch des Alltagslebens, ist. Dies zeigt das Nebeneinander von Blumen, Tieren, Porträts bestimmter Personen, Comicfiguren ebenso wie die in Schreibschrift wiedergegebenen Ansichten über das Wesen der Kunst, die im Kontrast stehen zu dem in Graffitimanier plakativ angebrachten Ausspruch „We want it . . .“. Der Bekl. hat auch, wie sich insbesondere aus der Begründung des Widerspruchsbescheides ergibt, gesehen, daß die Kunstfreiheit des Art. 5 III 1 GG nicht unter einem Gesetzesvorbehalt steht und daher nur eingegrenzt ist durch die verfassungsmäßige Ordnung unter Berücksichtigung der Grundrechte anderer und der Einheit des grundgesetzlichen Wertesystems (BVerfGE 30, 173 [193] = NJW 1985, 261). Die beanstandete Fassadenbemalung hält sich innerhalb dieser Schranken.

Sie verletzt keine Verfassungsrechte Dritter noch verstößt sie gegen die für die soziale Gemeinschaft unverzichtbare Wertordnung. Wie die Ortsbesichtigung durch den Senat ergeben hat, geht von dem Haus des Kl. keine Beeinträchtigung des Straßenverkehrs oder gar eine Verkehrsgefährdung aus. Das Haus ist innerhalb der Ortsdurchfahrt gelegen, so daß die daran vorbeiführende Landesstraße ohnehin nicht mit hoher Geschwindigkeit befahren werden darf. Auch weist der Kl. zutreffend darauf hin, daß jeder Verkehrsteilnehmer bei Ortsdurchfahrten im allgemeinen mit vielfältigen Ablenkungen durch die Bebauung, Hinweis- und Werbeschilder usw. zu rechnen hat. Von entscheidender Bedeutung ist vorliegend jedoch die Lage des Hauses. Die längere Traufseite steht parallel zur Straße und kann, auch wegen des Kurvenverlaufs, von einem Autofahrer erst wahrgenommen werden, wenn er sich unmittelbar davor befindet. Die Sicht auf die Giebel wird dagegen zum einen durch die Nachbarhäuser, im übrigen aber auch durch die davor befindlichen Bäume verdeckt. Aus diesen Gründen ist die Bemalung nicht geeignet, die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer zwangsläufig derart auf sich zu ziehen, daß dadurch die Sicherheit oder Leichtigkeit öffentlichen Verkehrs gem. § 17 II RhPfBauO gefährdet ist und damit zugleich Leben oder Gesundheit der übrigen Verkehrsteilnehmer.

Auch ein Verstoß gegen § 5 II RhPfBauO rechtfertigt die angefochtene Verfügung nicht. Diese Bestimmung, nach der bauliche Anlagen mit ihrer Umgebung so in Einklang zu bringen sind, daß sie benachbarte bauliche Anlagen sowie das Straßen-, Orts- oder Landschaftsbild nicht verunstalten, ist zwar eine zulässige Inhaltsbestimmung des Eigentums i. S. von Art. 14 I 2 GG (BVerwG, NVwZ 1991, 938). Damit dient die Vorschrift neben der Ortsgestaltung auch dem Schutz der Eigentümer der benachbarten Grundstücke sowie dem allseitigen psychischen Wohlbefinden der Bürger und dem sozialen Frieden in der Gemeinschaft (BVerwG, NVwZ 1991, 938). Damit ist jedoch noch nicht gesagt, daß jeglicher Verstoß gegen § 5 II RhPfBauO auch eine Beschränkung des Grundrechts aus Art. 5 III 1 GG rechtfertigt. Vielmehr bedarf es dazu einer sorgfältigen Abwägung zwischen der Kunstfreiheit und den durch § 5 II RhPfBauO geschützten Rechten Dritter. Nur wenn deren Beeinträchtigung derart schwerwiegend ist, daß die Freiheit der Kunst zurückzutreten hat, kann der Verstoß gegen § 5 II RhPfBauO die angefochtene Verfügung stützen (vgl. BVerfGE 30, 173 [195] = NJW 1971, 1645; BVerfGE 67, 213 [228] = NJW 1985, 261; s. auch OVG Koblenz, NVwZ 1997, 1174). Daher hätte das VG seine Prüfung nicht darauf beschränken dürfen, ob der Tatbestand des § 5 II RhPfBauO erfüllt ist, sondern das Grundrecht des Kl. aus Art. 5 III 1 GG den möglicherweise durch die Fassadengestaltung beeinträchtigten Rechtsgütern gegenüberstellen müssen.

Der Eindruck, den der Senat aufgrund der Ortsbesichtigung gewonnen hat, führt dazu, daß ein Eingriff in die Grundrechte anderer Rechtsträger sowie in sonstige, mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtsgüter durch das Haus des Kl. und seine Gestaltung nicht derart schwerwiegend ist, daß diese Rechte dem Grundrecht des Kl. vorgehen. Was das allseitige psychische Wohlbefinden der Bürger und den sozialen Frieden angeht, die nach der Auffassung des Kreisrechtsausschusses durch das Haus des Kl. gestört werden, ist zu beachten, daß das Anwesen des Kl. am Ortsrand gelegen und von einer losen Bebauung umgeben ist, die weder in der Bauweise noch in der Außengestaltung einheitlich ist oder Besonderheiten aufweist. Aus diesem Grund erachtet der Senat anders als beispielsweise bei einer Anlage im Ortsmittelpunkt oder in der Nachbarschaft ortsbildprägender Bauwerke oder in einer Gemeinde, die ein spezifisches Ortsbild aufweist, die Einwirkungen des Hauses des Kl. auf das Ortsbild der Gemeinde sowie das Wohlbefinden der Bürger als vergleichsweise gering. Es übt weder selbst einen nachhaltigen und ortsbildprägenden Einfluß aus (vgl. BVerwGE 77, 134 [138] = NVwZ 1987, 590), noch ist es geeignet, das Wohlbefinden von Passanten ernsthaft herabzusetzen. Eine Kollision mit dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde nach Art. 28 I 2 GG oder den Rechten der Bürger aus Art. 2 II GG liegt daher nicht vor. Erheblich betroffen sein könnten allenfalls die in der Nachbarschaft gelegenen Gebäude und deren Bewohner bzw. Eigentümer. Dabei scheiden die auf derselben Straßenseite gelegenen Gebäude deshalb aus, weil sie in einem relativ großen Abstand zum Haus des Kl. stehen und von ihnen aus jeweils nur eine Giebelwand zu bemerken ist.

Anders verhält es sich dagegen mit den auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelegenen Gebäuden. Deren Bewohner sind gezwungen, von ihren Wohnungen aus das Anwesen des Kl., und zwar insbesondere mit seiner längeren traufseitigen Fassade, zu sehen, sie können diesem Anblick gleichsam nicht entgehen. Dabei können insbesondere die dunkle Farbgebung und die teilweise aggressiven Muster, die durchaus bedrohlich empfunden werden können, die Psyche der Bewohner beeinflussen und den Wohnwert ihrer Wohnhäuser mindern. Demgegenüber ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Gebäude auf der anderen Straßenseite dem Haus des Kl. nicht unmittelbar gegenüberliegen, sondern zu diesem versetzt und teilweise von der Straße zurückgesetzt stehen, so daß auch ein Ausblick aus den Fenstern an der bemalten Fassade vorbei möglich ist, was wiederum die Intensität der Einwirkungen der Bemalung auf die gegenüberliegende Bebauung mindert. Die gebotene Abwägung zwischen dem Recht des Kl. aus Art. 5 III 1 GG und den Rechten seiner Nachbarn auf „psychisches Wohlbefinden“ (Art. 2 II GG) und unbeeinträchtigte Nutzung ihres Grundeigentums muß nach Auffassung des Senats zu dem Ergebnis führen, daß dem Grundrecht des Kl. aus Art. 5 III 1 GG der Vorrang gebührt.

Die in Rede stehenden Interessen oder Rechte Dritter haben nicht ein solches Gewicht wie die Kunstfreiheit, die gem. Art. 5 III 1 GG gegenüber anderen, unter Gesetzesvorbehalt stehenden Grundrechten besonders hervorgehoben ist.

Rechtsgebiete

Baurecht

Normen

GG Art. 2 II, 5 III 1, 14 I 2, 28 I 2; RhPfBauO §§ 5 II, 17 II