OVG Lüneburg, Berufungsurteil vom 13. September 1993, 12 L 68/90

OVG Lüneburg, Berufungsurteil vom 13. September 1993, 12 L 68/90

Abwehranspruch gegen Lichtimmissionen einer Straßenlaterne

Gericht

OVG Lüneburg


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

13. 09. 1993


Aktenzeichen

12 L 68/90


Leitsatz des Gerichts

Ist der schutzwürdige Außenwohnbereich eines Grundstücks in unzumutbarer Weise von Lichtimmissionen einer Straßenlaterne betroffen, so kann der Grundstückseigentümer von dem Betreiber der Straßenbeleuchtung eine Abschirmeinrichtung verlangen, sofern der Betreiber die Abschirmung mit geringem Aufwand errichten (lassen) kann.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. begehren von der bekl. Stadt die Installation eines Blendschutzes an einer Straßenlaterne. Sie sind (Mit-)Eigentümer eines Grundstückes in der Stadt U. Das Grundstück ist mit einem Mehrfamilienhaus bebaut, dessen erste Etage die Kl. bewohnen. Auf der südlichen Grundstücksgrenze hat die Bekl. im Jahre 1972 als Teil der Straßenbeleuchtung der Straße “A.” eine Mastansatzleuchte errichtet, die mit einer 40 Watt Leuchtstoffröhre ausgerüstet ist (als eine der acht Straßenlaternen, die in einem Abstand von ca. 40 bis 45 m aufgestellt worden sind). Der Abstand zwischen dieser Straßenlaterne und der Hauswand beträgt etwas über 6 m. Die Leuchtstoffröhre der Mastansatzleuchte befindet sich in Höhe des zweiten Geschosses des Hauses, zudem ein ungefähr 2 m breiter und 10m langer, zum Teil überdachter Balkon gehört. Hinter dem westlichen Teil des Balkons schließt sich das Wohnzimmer der Wohnung an, das zwei große Fenster hat, die fast den gesamten Wandbereich ausfüllen. Mit Schreiben vom 14. 8. 1986 wandten sich die Kl. mit der Bitte an die bekl. Stadt, an der Straßenlampe vor ihrem Haus einen Blendschutz anzubringen. Sie wiesen in diesem Schreiben darauf hin, dass die Straßenlampe in den Abendstunden einen derart grellen Schein werfe, dass jeder, der sich auf dem Balkon aufhalte, stark geblendet werde. Sie hätten bereits mehrfach wegen Kopfschmerzen ihren Balkon verlassen müssen. Der Blendschutz solle so montiert werden, dass die Funktion der Straßenlaterne, Fußweg und Fahrbahn auszuleuchten, nicht beeinträchtigt werde.

Die Kl. haben Klage erhoben, die das VG abgewiesen hat. Die Berufung der Kl. hatte demgegenüber Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Kl. können von der Bekl. die Installation einer Abschirmeinrichtung an der vor ihrem Haus errichteten Straßenlaterne verlangen, durch die gewährleistet ist, dass der zu ihrer Wohnung gehörende Balkon von Blendwirkungen freigehalten wird. Das klageabweisende Urteil des VG ist daher zu ändern und die Bekl. zu verpflichten, an der Straßenlaterne einen Blendschutz anzubringen.

Auszugehen ist davon, dass als Rechtsgrundlage für den hier mit der allgemeinen Leistungsklage durchzusetzenden öffentlichrechtlichen Abwehranspruch gegen die von einer Straßenleuchte ausgehenden Lichtimmissionen (s. dazu: OVG Koblenz, WuM 1982, 249 und NJW 1986, 953; VGH Mannheim, VBlBW 1983, 25; VGH Kassel, NJW 1989, 1500; VGH München, NuR 1993, 233) die Bestimmung des § 22 I BImSchG nicht (direkt) anzuwenden ist (so aber OVG Münster, ZMR 1980, 219; a. A. VGH München, NJW 1991, 2660 = NuR 1993, 233). Die §§ 22 ff. BImSchG und damit auch die Vorschrift des § 22 I BImSchG begründen nämlich nur Rechte (Befugnisse) und Pflichten im Verhältnis zwischen Errichtern und Betreibern einer Anlage i. S. des § 3 V BImSchG einerseits und der für die Genehmigung und Überwachung emittierender Anlagen zuständigen Behörden andererseits; sie begründen aber keine Abwehransprüche im Nachbarschaftsverhältnis zwischen Störer und Gestörtem, mag der Störer auch – wie hier die Bekl. – ein Hoheitsträger sein (BVerwGE 79, 254 (257)), der eine öffentliche Einrichtung zur Daseinsvorsorge (Straßenbeleuchtung) beschreibt, von der die störenden Immissionen ausgehen. Ob jedoch als Anspruchsgrundlage für den Abwehranspruch die Grundrechte aus Art. 2 II 1 GG (Recht auf körperliche Unversehrtheit) oder Art. 14 I GG oder die entsprechend anzuwendenden Bestimmungen der §§ 1004, 906 BGB in Betracht zu ziehen sind, kann der Senat ebenso wie das VG für die hier zu treffende Entscheidung offen lassen. Es ist nämlich allgemein anerkannt (s. die soeben genannten Urteile m. w. Nachw.), dass ein (öffentlichrechtlicher) Abwehranspruch gegen von einer öffentlichen Einrichtung ausgehende Immissionen besteht, wobei lediglich Uneinigkeit über die dogmatische Herleitung des Abwehranspruches herrscht. Dem VG ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerwG (BVerwGE 79, 254 (257 f.)), der sich der Senat anschließt, auch darin zuzustimmen, dass ein Bürger als Grundstückseigentümer die von einer öffentlichen Einrichtung – hier der Straßenbeleuchtung – ausgehenden Immissionen auch unterhalb der Schwelle der Gesundheitsschädigung oder des schweren und unzumutbaren Eigentumseingriffs nicht schlechthin zu dulden hat und dass die Maßstäbe, die zur Abgrenzung zwischen noch hinzunehmenden und nicht mehr zumutbaren Beeinträchtigungen zu entwickeln sind, sich sowohl aus den Bestimmungen des Bürgerlichen Rechts (§ 906 BGB) als auch aus denen des öffentlichen Rechts (§§ 3 I, 22 I BImSchG) ergeben. Es besteht nämlich kein Anlass, die grundlegenden Maßstäbe, mit denen das private und das öffentliche Immissionsschutzrecht die Grenze für eine Duldungspflicht gegenüber Immissionen und damit für die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit von Einwirkungen auf benachbarte Grundstücke bestimmen, und zwar einerseits die Wesentlichkeit (§ 906 II 1 BGB) und andererseits die Erheblichkeit (§ 3 I BImSchG), unterschiedlich zu handhaben (BVerwGE 79, 254 (258); vgl. auch BGHZ 111, 63).

Dem VG ist auch darin beizupflichten, dass nach den zu § 906 BGB als auch nach den zu den §§ 3 I, 22 I BImSchG entwickelten Maßstäben bezüglich der störenden Lichtimmissionen, die sich auf die Nutzung des Wohnzimmers der Kl. auswirken, ein Abwehranspruch nicht besteht.

Dies ergibt sich schon daraus, dass es den Kl. auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass heute bei Wohnzimmern große Fenster üblich sind, zuzumuten ist, das in ihr Wohnzimmer bei Dunkelheit eindringende Licht durch einfache Hilfsmittel abzuwehren. Eine Blendwirkung kann schon durch das Herunterlassen der nach der Augenscheinsannahme vom 15. 1. 1990 an den Wohnzimmerfenstern vorhandenen Jalousie verhindert werden. Zwar ist den Kl. damit ein Ausblick durch die Fenster in die freie Landschaft verwehrt, hierbei muss aber berücksichtigt werden, dass die Kl. vorgetragen haben, sich in den Monaten Mai bis September ohnehin vorwiegend außerhalb ihres Wohnzimmers auf ihrem Balkon aufzuhalten und dass die Straßenbeleuchtung in dieser Zeit erst in den Abendstunden eingeschaltet wird. Während der übrigen Zeit wird die Straßenbeleuchtung zwar insbesondere in den Wintermonaten früher eingeschaltet, zu dieser Zeit ist wegen der Dunkelheit ein Ausblick durch die Wohnzimmerfenster nach draußen ohnehin nur in beschränktem Umfange möglich.

Anders verhält es sich demgegenüber mit der von der Straßenlaterne ausgehenden Blendwirkung, soweit hierdurch für die Kl. die Nutzung ihres Balkons eingeschränkt wird.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Balkon entgegen der Auffassung der Bekl. zum schutzwürdigen Außenwohnbereich gehört. Allerdings sind Freiflächen und Balkons nicht ohne weiteres in den Bereich mit einzubeziehen, für den dem Grundeigentümer ein Abwehrrecht gegen unzumutbare Beeinträchtigungen durch Immissionen zusteht. Vielmehr muss für die Schutzwürdigkeit konkret bestimmt werden, ob die Freifläche oder der Balkon auch tatsächlich wie der in einem Gebäude belegene Wohnraum Wohnzwecken dienen und vom Anspruchsteller entsprechend genutzt werden. Wird nämlich ein Balkon nicht regelmäßig zum Aufenthalt im Freien genutzt, kommt ihm lediglich wie einem Vorgarten dekorativer Wert zu, so ist es nicht gerechtfertigt, den Balkon in den Schutzbereich einzubeziehen (vgl. hierzu: BVerwG, Buchholz 316 § 74, VwVfG Nr. 6, S. 10 und Buchholz 442.40 § 9 LuftVG Nr. 7, S. 51)Diese für Lärmimmissionen entwickelten Grundsätze gelten entgegen der Auffassung der Bekl. auch für die hier interessierenden Lichtimmissionen. Wird ein Balkon wie andere Flächen eines Grundstücks tatsächlich zu Wohnzwecken genutzt, so ist seine Nutzung damit dem Grunde nach schutzwürdig; denn auch die Erholung im Freien gehört nach heutigem Verständnis zu den Grundbedürfnissen des Menschen (vgl. BVerwG, Buchholz 406.25 § 43 BImSchG Nr. 3, S. 5). Der durch Lichtimmissionen in der Nutzung seines Balkons beeinträchtigte Bürger kann daher nicht von vorneherein darauf verwiesen werden, es sei ihm möglich, sich durch eine eigene Abschirmeinrichtung gegen den Lichteinfall zu schützen. Vielmehr ist konkret abzuwägen, ob dem Grundstückseigentümer die störenden Lichtimmissionen zugemutet werden können oder nicht; hierbei sind die Zumutbarkeit, das Gewicht der berechtigten Interessen des Bürgers, das Maß der Beeinträchtigungen durch die Lichtimmissionen sowie die dem Bürger einerseits und dem Hoheitsträger andererseits zur Verfügungen stehenden Abhilfemöglichkeiten in den Abwägungsvorgang einzustellen.

Hier bestehen keine Zweifel daran, dass die Kl. ihren vor ihrem Wohnzimmer gelegenen und zum Teil überdachten Balkon dauernd zum Aufenthalt im Freien nutzen. Eine Schutzwürdigkeit der Nutzung ist also grundsätzlich zu bejahen. Der Senat hat auch keinen Anlass daran zu zweifeln, dass von der nahe am Haus errichteten und in Augenhöhe eines Balkonbenutzers angebrachten Leuchtstoffröhre der Straßenlaterne eine erhebliche Blendwirkung ausgeht, die nach Einschalten der Straßenbeleuchtung auch bei nicht im besonderen Maße lichtempfindlichen Personen eine Nutzung des Balkons auf Dauer wesentlich beeinträchtigt. Dabei ist unerheblich, ob die Lichtimmissionen – so die Messungen der von der Bekl. mit Messungen der Lichtstärke beauftragten Gesellschaft vor dem Balkon nur noch einen Wert von 3 Lux erreichen oder nicht. Für die hier allein interessierende Frage der Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit von Lichtimmissionen kommt es nämlich nicht (allein) auf die Lichtstärke, sondern entscheidend auf die durch den Lichtschein der Straßenlaterne hervorgerufene Blendwirkung an. Hierzu haben die Kl. aber unwidersprochen vorgetragen, die Blendwirkung der Lampe sei an bestimmten Teilen des Balkons so stark, dass sich nach längerem Aufenthalt im östlichen Teil des Balkones bei einem Benutzer sogar Kopfschmerzen einstellen würden. Dies hält der Senat für glaubhaft. Nach der Überzeugung des Senats ist davon auszugehen, dass schon wegen der Nähe der Straßenlaterne zum Balkon und der für einen Benutzer des Balkons in Augenhöhe angebrachten Mastansatzleuchte von der Straßenlaterne eine erhebliche Blendwirkung ausgeht, die zumindest im östlichen Teil des Balkons die Nutzung dieses Balkonteils wesentlich einschränkt.

Hierbei handelt es sich auch um eine unzumutbare Beeinträchtigung des Grundeigentums der Kl. Die Kl. sind nicht darauf zu verweisen, nur noch den westlichen Teil ihres Balkons nach Einschalten der Straßenbeleuchtung zu nutzen. Ist nämlich eine zum Außenwohnbereich in vollem Umfange gehörende Grundstücksfläche schutzwürdig, so kann dem Grundstückseigentümer im Rahmen der Zumutbarkeitserwägungen nicht angesonnen werden, einen Teil dieser Fläche nicht zu nutzen und sich auf den von Immissionen nicht betroffenen Teil der Grundstücksfläche zurückzuziehen. Dies würde nämlich darauf hinauslaufen, bestimmte Grundstücksteile, obwohl sie schutzwürdig sind, wieder aus dem Schutzbereich herauszunehmen.

Ist daher die Nutzung des Balkons in seiner gesamten Fläche schutzwürdig, so können die Kl. auch beanspruchen, dass alle Teile des Balkons von unzumutbaren Immissionen freigehalten werden und dass ihnen damit der Balkon in seiner gesamten Ausdehnung zur uneingeschränkten Nutzung zur Verfügung steht.

Die Kl. können – anders als bei der Nutzung ihres Wohnzimmers – auch nicht darauf verwiesen werden, sich selbst durch Schaffung einer Abschirmeinrichtung an ihrem Balkon vor den störenden Lichtimmissionen (Blendwirkung der Leuchtstoffröhre) zu schützen; dies ist ihnen nicht zumutbar (vgl. § 906 II 2 BGB). Allerdings könnte die Blendwirkung dadurch beseitigt werden, dass im östlichen Teil des Balkons eine Jalousie oder ein Rollo etwa am Dachüberstand angebracht würde. Dies würde aber – anders als im Wohnzimmer – dem Charakter des Balkons als einem dem Freien zugewandten (Außen-) Wohnbereich gerade zuwiderlaufen. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Installation einer Abschirmeinrichtung am Balkon mit erheblichen Kosten verbunden wäre, während die Installation einer Abschirmeinrichtung an der Straßenlaterne in Form einer Blechkonstruktion nur geringe Kosten verursachen würde. Hat es der Hoheitsträger aber in der Hand, selbst mit geringen Mitteln, die von seiner Einrichtung auf das Grundstück eines Bürgers einwirkenden und eine erhebliche Beeinträchtigung darstellende Immission zu unterbinden, und wäre das gleiche Ergebnis nur dadurch zu erreichen, dass der Bürger selbst wesentlich (kosten) aufwendigere Maßnahmen ergreift, so führt die vorzunehmende “Güterabwägung” (vgl. BVerwGE 79, 254 (260)) dazu, dass es dem Bürger nicht zuzumuten ist, selbst erhebliche Mittel zur Beseitigung der von einer öffentlichen Einrichtung ausgehenden Immissionen aufzuwenden.

Dem Anspruch der Kl. auf Installation einer Abschirmeinrichtung an der Straßenlaterne kann die Bekl. auch nicht entgegenhalten, die von der Laterne ausgehenden Emissionen seien ortsüblich (vgl. § 906 II 1 BGB) und daher hinzunehmen. Allerdings spricht einiges dafür, dass den Kl., hätten sie eine Versetzung der Lampe beansprucht, das Argument der Ortsüblichkeit mit Erfolg hätte entgegengehalten werden können. Um eine Versetzung der Lampe geht es hier aber nicht, auch soll der Abschirmschutz an der Laterne so angebracht werden, dass hierdurch die Funktion der Straßenlaterne, die Fahrbahn und die Gehwege der Straße “A” auszuleuchten, nicht beeinträchtigt wird. Vielmehr sollen durch den Blendschutz nur die Immissionen unterbunden werden, die durch die große Nähe gerade der Mastansatzleuchte zum Balkon der Kl. verursacht werden. Diese Nähe ist aber wie auch der von der Bekl. im Berufungsverfahren überreichte Lageplan zu den in der Straße “A.” installierten Straßenlaterne zeigt ungewöhnlich, mithin nicht ortsüblich und kennzeichnet einen nur bei den Kl. gegebenen Sonderfall.

Die Kl. sind auch nicht mit Rücksicht auf die Bestimmung des § 126 I Nr. 1 BauGB zur Duldung der auf ihren Balkon einwirkenden Lichtimmissionen verpflichtet. Auch wenn § 126 I Nr. 1 BauGB die Errichtung von Straßenlampen auf Privatgrundstücken im Rahmen der Sozialbindung des Eigentumes ermöglicht, schließt diese Bestimmung, die nur eine Duldungspflicht für das Aufstellen einer Straßenlaterne normiert, nicht aus, dass der betroffene Grundstückseigentümer sich gegen die von einer Straßenlaterne ausgehenden und ihn unzumutbar beeinträchtigenden Lichtimmissionen zur Wehr setzen und insoweit die Gemeinde erfolgreich auf Abwehrmaßnahmen in Anspruch nehmen kann (so auch OVG Koblenz, WuR 1982, 249 a. E. und NJW 1986, 953 (954)).

Dem somit den Kl. zuzubilligenden Abwehranspruch in Form der Verpflichtung der Bekl. zur Installation einer geeigneten Abschirmeinrichtung an der Straßenlaterne kann schließlich auch nicht der Einwand der Verwirkung entgegengehalten werden.

Rechtsgebiete

Verwaltungsrecht; Grundstücks- und Wohnungseigentumsrecht